Ich bin nicht überrascht. Ich bin nicht geschockt. Aber ich bin bewegt.
Heute möchte ich euch ein bisschen eintauchen lassen in eine ziemlich andere Welt, in der ich seit vier Monaten leben, lernen und arbeiten darf - in die Kultur Thailands, den Trubel einer pulsierenden Metropole und das Rotlichtmilieu "unseres" Bangkoker Stadtteils.
Ich habe länger keinen Artikel mehr geschrieben. Grund dafür war unter anderem, dass ich Erfahrungen und Erlebnisse wie viele einzelne Puzzlestücke sammle, diese aber lange nicht wirklich zu einem nachvollziehbaren Gesamtbild oder wenigstens einer ersten Bilanz zusammenfügen konnte und wollte. Noch immer habe ich das Gefühl, in so vielen Hinsichten erst an der Oberfläche gekratzt zu haben. Trotzdem möchte ich jetzt ein paar Eindrücke teilen.
Kleine Erinnerung vorab
Ich bin in Europa geboren und aufgewachsen. Bis zu meiner Anreise hier wusste ich fast nichts über Südostasien, geschweige denn spezifisch über Thailand. Was ich mit euch teile, sind meine Beobachtungen, Nachfragen und Schlussfolgerungen der wenigen Wochen, die ich hier bisher verbracht habe. Sie sind subjektiv und auf jeden Fall nicht vollständig. Auch hat Thailand weit mehr zu bieten als das Rotlicht und ist ein wunderschönes Land voller Schätze, voller wundervoller Menschen. In diesem Blog seht ihr nur ein Stückchen Bangkok durch meine Augen.
Um die Arbeit und die involvierten Personen zu schützen und mir auch auf anderen Ebenen keine Probleme einzuhandeln, halte ich mich in diesem öffentlich zugänglichen Teil meines Blogs eher allgemein. Fühlt euch frei, mir persönlich zu schreiben, wenn ihr zu irgendeinem Punkt oder einer Geschichte mehr wissen wollt.
Okay, los geht's. :)
Das Rotlicht
Ich komme einfach mal direkt zur Sache. Thailand hat unglaublich viel Prostitution. Auf die Idee, dass sie offiziell verboten ist, würde man ohne eigene Recherche nicht kommen. Dabei ist all das, was man bei einem Spaziergang durch die Straßen davon sehen kann, nur die Spitze des Eisbergs. Der Großteil der "Nachfrage" geht nicht etwa von den vielen Sextouristen aus, sondern von den Einheimischen selbst. Da allerdings so viel Wert darauf gelegt wird, ein schönes Äußeres zu präsentieren (ob das Bild dann der Wahrheit entspricht, steht auf einem anderen Blatt), und Prostitution teilweise verpönt ist, sind viele Bordelle nicht als solche erkennbar. Sie wirken auf den ersten Blick wie ein Massagesalon oder ein Restaurant. (Thai Massagen sind übrigens ganz wundervoll, wollte ich nur mal erwähnen.)
In den von Touristen viel frequentierten Gegenden sieht das schon anders aus. Schließlich müssen diese ihr Ziel leicht ausfindig machen können. Der Kunde hat die Qual der Wahl: Freelancer oder Bartänzer, als Frau geboren oder zu einer Frau gemacht, ungepflegt bis nobel, frech und laut oder lieber schüchtern und leise, dick, dünn, groß, klein, möglichst jung aussehend oder doch mit einer gewissen Reife, mit Englischkenntnissen für ein bisschen Smalltalk oder lieber ohne Kommunikationsmöglichkeiten, mit Sexshow vorher oder direkt to go ins Hotel. "Wie viel?" und: "Nimm mal die Maske ab [um das Aussehen des Gesichts bewerten zu können]", haben diese Ecken Bangkoks schon oft gehört. Es wird geflirtet und betatscht und dann manchmal doch stehen gelassen.
Ich hoffe, das Gefühl von Basar kommt ein bisschen rüber. Genau so läuft es nämlich ab. So wie ich mir beim Obstkauf auf der Straße die besten Mangos aussuche oder auf dem Markt nach einem Nachlass frage, wird hier nach eigenen Vorlieben der beste Körper ausgesucht, verhandelt und gemietet. Dass zu einem Körper eine Person mit Charakter, Gefühlen und einer Geschichte gehört, scheint nicht von Bedeutung zu sein. Schließlich ist sie nicht angekettet und könnte gehen, wenn sie wollte. Sie ist sicherlich froh über das Geld, und im Übrigen will man sich von den Problemen dieser fremden Kultur, die man sowieso nicht versteht, nicht den Spaß am Urlaub verderben lassen.
So oder so ähnlich wird oft argumentiert. Sicherlich gibt es Unterschiede in den Ansichten, zumal sich bei so manchem hin und wieder doch das schlechte Gewissen zu melden scheint, das nach einer Erklärung verlangt. Aber das Ergebnis ist dann doch allzu oft dasselbe.
Veränderungen durch die Krise
Als ich herkam, war im Rotlicht noch nicht so viel los. Es gab viele Frauen und wenig Kundschaft, und es schien schwierig, Kontakte herzustellen. Durch die krisenbedingten Einschränkungen und Maßnahmen von 2020 bis 2022 waren viele Menschen hier in Not geraten - so u. a. auch die Frauen, die auf den Tourismus angewiesen waren. Viele Strukturen und Beziehungen, die über Jahre durch meine neuen Freunde vor Ort aufgebaut worden waren, lösten sich auf. Viele Menschen gingen an andere Orte, und viele neue Leute kamen im Anschluss in die Gegend.
Heute scheint das Business mehr zu boomen denn je. Aber auch wir scheinen wieder mehr etabliert zu sein in dieser neuen alten Umgebung. Wir knüpfen viele neue Beziehungen und hören viele Geschichten. Allgemein stellen wir fest, dass die Frauen weit mehr Gewalt erfahren als vor der Krise und Angst haben. Wir hatten kürzlich wieder mit einer Frau mit posttraumatischer Belastungsstörung zu tun und mit einer Person, die sich bei uns vor ihrem Freier versteckte, weil er aggressiv war. Auch scheint es einen massiven Anstieg von Personen zu geben, die aus anderen Ländern hierher verschleppt werden. Da ist das Kennenlernen nochmal eine andere Geschichte.
Wie ich selbst das Rotlicht empfinde und was ich so denke
Bevor ich ein bisschen mehr zu unserer Arbeit und den kulturellen Hintergründen erzähle, möchte ich ein paar persönliche Eindrücke und Gedanken mit euch teilen.
Nach der Sprachschule gehe ich oft direkt zur Arbeit. Während wir nachts und abends darauf achten, dass niemand von uns allein durch die besagten Straßen läuft, ist das tagsüber anders. Da kommt und geht jeder allein. Zu diesen Zeiten ist eine physische Gefahr auch eher gering (solange man sich nicht von einem der gefühlt regelbefreiten Taxis oder Motorroller überfahren lässt).
Extrem spürbar ist hingegen die sexuell aufgeladene Atmosphäre - und die Last der Blicke, die einem folgen, ist allgegenwärtig. Ich habe länger überlegt, ob ich darüber schreiben soll, aber es ist Teil meiner Erfahrungen hier, und ich will lernen, gut damit umzugehen. Auch möchte ich das Unbehagen konfrontieren, das dieser Bericht möglicherweise auslösen könnte, und vielleicht zum Nachdenken darüber inspirieren, wie man andere Leute und sich selbst sieht und behandelt.
Die Tische der Bars sind häufig zur Straße hin ausgerichtet, sodass man direkt vor oder unter den dort sitzenden Gästen vorbeigeht. Auch bleibt man immer wieder stehen, um abzuwarten, bis die Verkehrslage es erlaubt, um die Verkaufsstände herumzulaufen, oder um sich eine Mahlzeit für unterwegs zu kaufen - also genug Gelegenheiten für diverse Kommentare, Anmachen und Date-Anfragen seitens der Kundschaft dieser Gegend.
Wie geht man am besten damit um? Ich weiß es nicht immer. Manchmal antworte ich nett und kurz (oder nur kurz - ohne nett) und manchmal ignoriere ich es, manchmal ergeben sich Gespräche und manchmal bin ich einfach sauer. Ich frage mich, wie man so selbstverständlich davon ausgehen kann, einen beliebigen Menschen kaufen, mieten oder wie einen Hund oder ein Souvenir herumführen zu können. Aber auch anders herum: Jeden Mann als potenziellen Freier zu behandeln, ihn teilweise anzufassen oder zu bestehlen, ist nicht besser. Was sagt es über uns als Gesellschaft aus, wenn wir einen Raum schaffen, in dem genau das ausgelebt werden kann?
Ein bisschen Glamour und Lachen können darüber hinwegtäuschen, was eigentlich los ist, aber man merkt schnell, was für ein Bild von Frauen und Männern hier vorherrschend ist, und ich denke immer wieder daran, was Huschke Mau über ihre Zeit in der Prostituion erzählt (falls ihr sie nicht kennt, könnt ihr sie ja mal googlen). Sie sagt, es sei ein Irrtum, anzunehmen, dass Ausbeutung dieser Art nur in so einer Parallelgesellschaft Platz hätte und sich nicht auf die "ganz normalen" Leute im Alltag auswirken würde. Freier seien letztendlich Arbeitskollegen, Väter, Brüder, Söhne.
Ich finde das schlüssig. Wie soll jemand, der Frauenkörper in seinem Urlaub kauft, zu Hause, auf seiner Arbeit oder beim Einkaufen auf einmal ein anderer Mensch sein und Frauen ohne Hintergedanken wertschätzen? Und auch eine Frau, die fremden Männern für Geld ihren Körper zur Verfügung stellt, kann sich diesen nach Feierabend nicht wie Arbeitskleidung ausziehen. Wir alle sind letztendlich überall dieselben, auch wenn wir uns an die Gegebenheiten anpassen, und nehmen so am gesellschaftlichen Leben teil. Diese schöngeredeten Trennungen halte ich für eine Illusion, und so betrifft sexuelle Ausbeutung uns direkt oder indirekt letztendlich alle.
Aber seien wir mal ehrlich zu uns selbst: Wie oft haben wir schon andere dazu benutzt, uns selbst besser zu fühlen oder einen Vorteil zu verschaffen? Missbrauch beschränkt sich meiner Meinung nicht auf Vergewaltigungen, sondern ist da, wo wir jemand anderes für unsere Zwecke instrumentalisieren. Es hat alles denselben ekligen Geschmack. Vor einigen Jahren sagte mir einmal ein Vater von damals drei kleinen Kindern: "Wenn ich bei einem Treffen mit Bekannten mit meinen Kindern spiele, weil ich möchte, dass andere mich für einen guten Vater halten und nicht um der Kinder selbst willen, dann ist das keine Liebe. Das ist Missbrauch. Ich benutzte sie, um mein Ego zu befriedigen."
Alles Sichtbare beginnt im Unsichtbaren, und was wir letztendlich tun, haben wir vorher schon in unseren Herzen vorbereitet. Missbrauch an anderen beginnt nicht in der Ausführung, sondern in unseren Gedanken und Einstellungen.
Ich möchte euch an dieser Stelle ermutigen, euch in dieser Hinsicht sachlich mit dem Thema Pornografie auseinander zu setzen, sofern euch das nicht triggert. Ihr wisst, was ich meine - nicht, sie zu konsumieren, aber sie nüchtern zu bewerten. Sie befeuert nämlich oft ein verzerrtes Bild von Sexualität und Gewalt, und die Frucht davon wird unter anderem im Rotlicht unmittelbar sichtbar. Sie ist alles andere als harmlos, und verherrlicht in großem Stil auch Missbrauch an Minderjährigen. Ich habe zwar keine Kinder, aber ich denke, Eltern müssen aktuell auch der Wahrheit ins Gesicht sehen, dass ihren Elfjährigen ganz andere Türen, aber auch Gruben offen stehen als früheren Generationen.
Wie dem auch sei - so schaue ich mir das alles an und denke darüber nach und empfinde dann doch einfach Mitleid. Hinter der Fassade findet man immer wieder gebrochene Herzen oder Menschen mit der Hoffnung auf die große Liebe. Es tut mir leid um jeden, der in irgendeiner Weise ins Rotlicht und ungesunde Beziehungen involviert ist. Ich will da auch gar nicht verurteilen oder aufteilen in: Täter ("schuld an allem") und Opfer ("den Umständen hilflos ausgeliefert"), weil dieses Bild meistens nicht der Realität entspricht. Jeder, egal ob arm oder reich, Frau oder Mann, hat eine eigene Geschichte, und ich sehe nur die Zwischenbilanz. Trotzdem ist das keine Entschuldigung, und das hier ist ein Fass ohne Boden, von dem ich nicht glaube, dass irgendjemand da unbeschadet herauskommt.
Daher wird man von mir über Prostitution nichts Positives hören. Ich glaube an völlige Heilung und Wiederherstellung, weil ich den kenne, der uns gemacht hat und uns über alles liebt. Gleichzeitig liege ich zu Hause manchmal weinend auf meinem Bett und spüre die Diskrepanz zwischen seinem Vaterherzen und dem seiner Kinder bzw. dem, was ich sehe. Ich merke aber, dass gerade diese Momente mich zu tiefen, persönlichen Entscheidungen bewegen und in mir Mut, Fokus und Hoffnung erneuert werden.
Hintergründe
Welche Geschichten haben die Frauen und Männer zu erzählen, die man in den Bars und auf der Straße antrifft? Generell kann man wohl sagen, dass es so viele Kombinationen von Wegen, Beweggründen und individuellen Einstellungen gibt wie Menschen, die man hier antrifft. In manchen Punkten ähneln sie sich; oft entdeckt man Parallelen. Ich gebe hier einen allgemeinen Überblick, der aber sehr pauschaliert ist und sich auf die Thai Frauen bezieht. Vielleicht findet sich an anderer Stelle der Raum für ein paar persönliche Geschichten.
Sehr viele Thais, die in Bangkok leben und arbeiten, kommen ursprünglich aus einer anderen der insgesamt 77 Provinzen Thailands, in der Regel vom Lande - zu einem sehr großen Anteil aus Isan, der nordöstlichen Region. Ein paar neue Freunde haben mir erzählt, dass sie als Kinder ohne fließendes Wasser und Elektrizität gelebt haben oder dass sie in ihrem Heimatdorf inmitten von Feldern und Bergen so unabhängig lebten, dass sie nur selten Geld verwendeten - aber eben auch keins hatten.
Nun ist es so, dass Frauen in Thailand die moralische Verpflichtung haben, ihre Familien (also Eltern, Kinder und teilweise auch Geschwister) finanziell zu unterstützen. Ein Großteil der Bevölkerung lebt ärmlich und ländlich, und ein höherer Lebensstandard ist nicht nur eine Frage des Komforts, sondern auch des Ansehens. Dass der Weg einer jungen Frau, deren Möglichkeiten für einen gut bezahlten Job beschränkt sind, letztendlich in eine der zahlreichen Bars in Bangkok oder Pattaya führt, ist nicht unwahrscheinlich.
Ich habe in dieser Stadt schon viele Menschen getroffen und festgestellt, dass oft selbst für studierte Leute der Monatslohn ziemlich gering und die Arbeitsbedingungen ziemlich fies sind. Arbeitnehmer ohne Universitätsabschluss kommen erst recht häufig kaum über die Runden. So erzählten mir zum Beispiel ein Busfahrer und eine alte Frau im Supermarkt von ihrem Leben, und ich gab mir alle Mühe, die Fassung zu bewahren und mich nicht allzu erschreckt zu zeigen.
In der Prostitution sehen die Verdienstmöglichkeiten teilweise besser aus. Wer unter ausländischen Touristen gefragt ist, hat die Chance auf ein höheres Einkommen als in einem der vielen schlecht bezahlten Jobs, und wenn das Geld erst einmal bei der Familie angekommen ist, wird dies auch für die Zukunft weiterhin so erwartet.
Meiner Beobachtung nach ist die Einstellung hier in Asien im Hinblick auf Männer und Frauen sowie auf Geld und den Sinn des Lebens völlig anders als in Deutschland. Ich denke, es ist wichtig, zu verstehen, dass die Mädchen und Frauen in den Bars teilweise bewusst dorthin gegangen sind. Natürlich gibt es auch die klassischen Fälle, in denen naive Dorfkinder mit falschen Versprechungen in die Sexsklaverei verschleppt werden - vermutlich sind das auch die Geschichten, die uns irgendwie lieber sind, weil sie einen stärkeren emotionalen Kick versprechen, wenn wir sie hören und uns entrüsten, oder weil man sich mehr wie ein Held fühlt, wenn man auf irgendeine Weise dazu beiträgt, diese Leute zu "retten".
Aber was ist mit denen, die nicht gerettet werden wollen? Man sagt, Geld regiere die Welt, aber so stark wie hier habe ich das noch an keinem anderen Ort gespürt. Ich würde es in Bezug auf die Geschlechter ganz grob so zusammenfassen: Männer bezahlen mit Geld, und Frauen mit Schönheit. Je mehr von dem einen vorhanden ist, desto mehr kann man auf der anderen Seite erwarten. Und das gilt nicht nur in der Prostitution und nicht nur in Thailand. Wenn zum Beispiel einige meiner männlichen Bekannten aus verschiedenen anderen asiatischen Ländern gefragt werden, warum sie denn keine Freundin hätten (hier Bestandteil des ganz normalen Smalltalks), lautet die Antwort in der Regel: "Ich habe kein Geld."
Prostitution ist auch nicht unbedingt die Notlösung, um die Familie aus der größten existenziellen Not zu retten. Vielmehr wird das Geld der anschaffenden Tochter auch für "Luxusgüter" und einfach mehr Komfort verwendet. Im angrenzenden Kambodscha geht das so weit, dass Eltern selbst ihre kleinen Kinder an Pädophile "vermieten", um selbst nicht arbeiten zu müssen.
Generell wird vielen Kindern offenbar oft von klein auf vermittelt, dass der Sinn ihres Lebens in der Versorgung der Eltern bestehe (sicherlich nicht immer und überall). Zu Hause werde mit Lob sehr sparsam umgegangen, meinte eine Bekannte, die als Sozialarbeiterin im Slum unterwegs ist.
Eine Freundin, die ländlich aufgewachsen war, erzählte mir, dass sie viele Schwestern hätte und die Dorfbewohner deshalb auf ihre Familie herabgeschaut hätten. Man habe ihrem Vater damals geraten, er solle sich doch eine andere Frau nehmen, die ihm Söhne gebären würde. (Es ist hier nicht unüblich, dass Männer - oft auch im Wissen ihrer "offiziellen" Ehefrau - eine oder mehrere weitere Nebenfrauen oder sogar Familien haben und/oder zu Prostituierten gehen. Jemand erzählte, wie die eigene Schwester, deren Mann und das Kind vor einigen Jahrzehnten an HIV gestorben seien, weil er überall herumgetigert sei, sich den Virus eingefangen und sie und das gemeinsame Baby letztendlich angesteckt habe, sodass nur das älteste Kind überlebt hätte.) Jedenfalls meinte meine Freundin, Frauen würde von klein auf ein falsches Verständnis ihres Wertes vermittelt. Sie sagte, dass ihre Familie christlich geprägt sei und ihr Vater seine Töchter geliebt habe und dem Rat der Dorfbewohner nicht gefolgt sei. Das sei aber eher die Ausnahme gewesen. Sie und ihre Freundin erzählten mir, wie man teilweise mit ihnen umgegangen sei und was man über sie gesagt habe, weil sie Mädchen seien. Es wunderte mich nicht, dass in der Folge so viele Frauen sich selbst und ihren Körper nicht als schützenswert erachten. Aber sie lächelte und sagte: "Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Gott liebt mich. Für ihn bin ich wertvoll."
(Manche sagen, dass heutzutage diese Denkmuster im Wandel seien. Ich kann das nicht beurteilen und habe die Berichte von Leuten ab ca. 30 Jahren und älter.)
Immer wieder merke ich, dass man auf demselben Planeten und doch in verschiedenen Welten leben kann. Als westlicher Ausländer muss einem generell bewusst sein, dass das, was man sieht, mit Kultur, Religion und Prägung verwoben ist, dass diese völlig anders sind als die, die man selbst in sich trägt, und dass die Geschichten, die man letztendlich zu erzählen hat, oft nicht das sind, was euphorische Weltenverändererherzen in der Regel gerne hören würden. Ja, es gibt sie: die radikalen Veränderungen, die Leben, die völlig umgekrempelt wurden. Und ich liebe diese Geschichten auch. Aber da gibt es auch die, die seit Jahren auf der Straße leben und trotz aller Hilfen nicht in einen normalen Alltag starten können, oder diejenigen, die in starken Süchten und mit einem gewalttätigen Partner leben - oder diejenigen, die gerne unverbindliche Hilfe in Anspruch nehmen, aber trotz der persönlichen Belastung nicht auf den neu gewonnenen Luxus von Partyleben und Hotelbesuchen verzichten wollen.
Unsere Arbeit
Jetzt sollte ich aber mal erzählen, was wir hier eigentlich machen. Ich wurde schon öfter mal gefragt, ob die Arbeit hier eigentlich gefährlich sei, und ich würde sagen, ja und nein. Nein, weil die Arbeit langfristig ausgelegt und beziehungsorientiert ist. Ziel ist nicht, in möglichst viele Bars zu stapfen und Leute herauszuziehen, sondern einen Ort der Begegnung zu schaffen, an dem man sicher ist und wo wir gemeinsam Zeit verbringen, uns kennenlernen, zusammen essen, uns unterhalten, uns gegenseitig hübsch machen und hin und wieder zusammen Feste feiern. Ich liebe diese Momente, wenn man sich zusammen freut, jemand einfach nur mit geschlossenen Augen dasitzt und genießt oder man ganz unverhofft mit einer Umarmung, einer kleinen Massage oder einer Frisur beschenkt wird.
Wir helfen außerdem verarmten Menschen in der Gegend materiell (unabhängig davon, ob sie in der Prostitution sind oder nicht) und scheinen in der Nachbarschaft ganz gut etabliert zu sein. Wenn eine Frau kommt, die Hilfe braucht, gibt es die entsprechenden Möglichkeiten, die ich größtenteils für sehr sinnvoll erachte, über die ich aber hier nicht schreibe. Generell gibt es verschiedene alternative Beschäftigungsmöglichkeiten, die die Organisation bereithält, inkl. gewisser Trainings und praktischer Hilfen.
Ansonsten gehen wir auch abends und nachts in die Bars und auf die Straßen, um Beziehungen mit den Frauen aufzubauen und zu pflegen, die dort arbeiten. Zu Feiertagen wie Weihnachten und zuletzt dem Valentinstag verteilen wir Geschenke und Einladungen zu Feiern. Alle paar Monate werden außerdem kostenlose Beratungen und Untersuchungen mit ehrenamtlichen Ärzten organisiert.
Ich persönlich habe zwar vereinbarte Zeiten mit unserem Team, aber wir alle sind sehr flexibel, sodass eigentlich jede Woche etwas anders aussieht. Neben den o. g. Aktionen mache ich auch Musik und bringe z. B. gerade einer Gruppe von Frauen das gemeinsame Singen oder einzelnen Mitarbeitern ein bisschen Klavierspielen bei. Es ist schon etwas herausfordernd, wenn man das noch nie gemacht hat und nicht wirklich eine gemeinsame Sprache hat, aber irgendwie funktioniert es und wir haben Spaß dabei. Wenn ich demnächst nicht mehr zur Schule gehe, probiere ich mich voraussichtlich mal in Live Musik in unserem Café. Darauf freue ich mich schon. Ich lerne ständig etwas Neues und die Welt kommt mir viel größer und reicher vor als früher.
Ich will auf der anderen Seite nicht verschweigen, dass Gewalt, Menschenhandel und organisierte Kriminalität hier durchaus ein Thema sind und dass so mancher von uns Freiwilligen hier in Thailand schon Situationen erlebt hat, die brenzlig waren. Es ist nicht der Regelfall, aber kommt vor. Gerade spielen sich wieder Szenen in meinem Kopf ab, die mir vorkommen wie aus einem Film, und ich staune darüber, wie greifbar gleichzeitig der Friede in mir und um mich herum war und wie ich einfach so viel Ruhe und Leichtigkeit hatte in dem Bewusstsein, dass mein Papagott mich beschützt. Seine Liebe macht mich mutig, und ich wäre ohne sie nicht hier.
Es gibt Momente, in denen ich genau weiß, dass da gerade sehende Augen blind gemacht wurden, wenn ihr versteht, was ich meine. Ein anderes Mal begegnen wir so vielen durchbohrenden Blicken, dass ich mich fühle wie ein Schaf unter Wölfen. Aber wenigstens komme ich dann nicht auf die Idee, mich auf mich selbst zu verlassen.
Wie habe ich die letzten drei Monate erlebt?
Zum Schluss möchte ich euch noch wissen lassen, wie ich meine Zeit hier bisher erlebt habe. Über meinen Alltag wisst ihr ja schon ein bisschen aus meinem letzten Bericht Bescheid. Daher ist der Fokus jetzt eher auf der Arbeit.
Ich will ganz ehrlich sein. Manchmal, vor allem am Anfang, kam mir alles viel zu zäh und langatmig vor. Zum Einen tickt die Uhr hier etwas anders, und auch die Arbeitsweise unterscheidet sich zum Teil von dem, was man aus Deutschland kennt. Außerdem habe ich manchmal an einigen Dingen ziemlich zu knabbern, die ein Umfeld aus Mitarbeitern unterschiedlicher Sprachen und Kulturen mit sich bringt. Habt ihr schon einmal einen Konflikt erlebt, in dem ihr versucht, euch auszusprechen, ihr aber so unterschiedlich geprägt seid und so eine verschiedene Art zu Denken habt, dass ihr einander im Gespräch nicht finden könnt? Das kann richtig an die Substanz gehen...wobei es auch irgendwie faszinierend ist...
Vor allem aber ist es schwer zu ertragen, in all die Bars und auf die Straßen zu gehen, viel Elend zu sehen und dann dieses Brennen im Herzen nicht kanalisieren zu können. Wohin damit? Ich empfand alle Bemühungen als völlig unzureichend und fand es so unbefriedigend, angesichts des Bedarfs nicht all meine Zeit und Energie in eine - meiner Meinung nach - adäquate Lösung zu stecken.
Aber ich wusste auch, dass gewisse Dinge noch nicht dran waren. Außerdem läuft man einen Marathon anders als einen Sprint. Dann, über Neujahr, hatte ich viel Zeit. Mein Liebster zeigte mir, dass ich auf ihn warten solle, und er mir Türen öffnen würde. Also tat ich das. Einen Teil einer Freizeit verbringe ich damit, stundenlang einfach in seiner Gegenwart zu sein und mit ihm zu reden - und im Übrigen vertraue ich einfach.
Seit vielleicht anderthalb Monaten würde ich sagen, dass Dinge ins Rollen gekommen sind. Ich gehe durch neue Türen, die ich mir selbst nicht hätte öffnen können, und habe Erlebnisse, in die ich ganz ohne eigenes Bemühen hineingeraten bin und über die ich immer noch staune. Ich fühle mich lebendig und am richtigen Ort. Ich lache und weine, lerne, zu lieben, und provoziere, bin mal in totalem Frieden und wache ein anderes Mal in totalem Gedankenchaos auf. Manchmal hinterfrage ich alles und jeden, inkl. mich selbst, und manchmal laufe ich einfach voller Begeisterung nach vorne. Mal genieße ich meine eigene Gesellschaft und dann vermisse ich wieder meine Familie und meine Freunde. Trotzdem sehe ich den roten Faden und habe Frieden in mir.
Und dann sind sie plötzlich da: Diese ganz besonderen Momente, die man nicht produzieren oder erzwingen kann, auf die man keinen Einfluss hat, die man nur im richtigen Moment ergreifen und erleben oder eben vorbeiziehen lassen kann - Momente, in denen leere Augen wieder Hoffnung finden, in denen Menschen wieder zu tanzen beginnen, in denen einem jemand erschöpft und erleichtert in den Schoß sinkt oder in denen jemand vor meinen Augen eine echte Gottesbegegnung hat und weint und nicht fassen kann, dass so eine Liebe und Freude tatsächlich möglich sind.
Ich bin dann einfach da und weiß: Das war ich nicht. Aber was für ein Privileg, es miterleben zu dürfen. Das ist es wert. Wenn ich nur dafür hergekommen sein sollte, wares das wert. All die Erfahrungen zusammen sind es ohnehin. Aber selbst, wenn es nicht so wäre, bin ich doch, wo ich gerade sein soll, und das zählt für mich.
P.S.: Danke für eure Ermutigungen! Ich hab euch lieb. Bis bald.
Eure Jenny
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