Neuneinhalb Monate! Irgendwie habe ich ein bisschen das Zeitgefühl verloren. Mein Leben hier ist inzwischen so normal geworden, dass ich mich manchmal frage, ob es jemals anders gewesen ist. Die Zeit, in der ich mich regelmäßig reizüberflutet auf mein Bett fallen ließ, ist fast vergessen. Die verschiedenen Gerüche und das Essen auf der Straße, der lärmende Verkehr mit seinen ganz eigenen Regeln, die Kommunikation in zwei Fremdsprachen - alles ist ganz normaler Alltag geworden.
Mein Leben in Thailand ist meine erste Erfahrung als Ausländerin. Habe ich früher selbst manche Zeitgenossen etwas schief beäugt, die von woanders kamen und sich seltsam benahmen, kann ich genau diese Leute jetzt ein Stück weit verstehen. Denn Kulturen sind so unterschiedlich. Was für mich höflich ist, kann in den Augen meines Nächsten sehr unhöflich sein - und umgekehrt ebenso. Auch können Worte, Aussagen und Fragen eine unterschwellige Bedeutung haben, die sich dem Gegenüber nicht allzu oft erschließt. Die Kommunikation in einer Fremdsprache macht das nicht unbedingt einfacher. Das ist eigentlich sehr interessant. Es bringt aber eben auch Herausforderungen mit sich.
Ich erzähle euch einfach mal ein bisschen aus dem Bauch heraus, was mir in den letzten neun Monaten so begegnet ist und wie das Leben hier für mich aussieht.
Erste Konversationen
Fangen wir mal mit unverbindlichem Smalltalk an. Der sieht meistens ungefähr so aus: „Hi, wie heißt du? Woher kommst du? Oh Deutschland, interessant! Hast du einen Freund? Warum nicht? Du bist hübsch - ich mag deine weiße Haut. Meine ist so dunkel. Stehst du auf Thais? Du bist bestimmt reich, oder? Wie viel verdient man in Deutschland so? Ich kenne jemanden, der da wohnt. Wie alt bist du eigentlich? Du bist niedlich. Findest du thailändisches Essen lecker? Wo wohnst du?“ Diese Konversation lässt sich beliebig auf alle neuen Begegnungen anwenden - zum Beispiel Taxifahrer, Händler und Frauen, die ich durch die Arbeit kennenlerne. Am Anfang war ich davon etwas überrumpelt, vor allem, wenn ich mein Gegenüber nicht kannte. Man spart auch nicht mit Bewertungen über das Erscheinungsbild. Meistens erfährt man relativ schnell, ob der Gesprächspartner einen hübsch findet oder eben nicht. Inzwischen nehme ich das alles gelassen und weiß, dass es vieles ein Ausdruck von Freundlichkeit und Neugierde ist - meistens jedenfalls. Mit ein bisschen Menschenverstand bei den Antworten kommt man in der Regel nicht nur unbeschadet aus dem Gespräch heraus, sondern hat vielleicht am Ende einen neuen Freund gefunden.
Alltägliche Unterhaltungen Dann gibt es noch die Unterhaltungen mit Leuten, die man schon besser kennt, zum Beispiel Arbeitskolleginnen. Fragen wie: „Hast du heute schon Reis gegessen?“, „Was willst du heute essen?“, „Hast du heute schlecht geschlafen?“ und „Wohin gehst du?“ sind viel mehr als ein Ersuchen um Information. Man drückt auf diese Weise Interesse für das Befinden der anderen Person aus. Wenn diese noch nicht gegessen hat, ist das ein Grund zur Besorgnis. Oh, warum nicht? Geht es dir nicht gut? Ich finde das irgendwie süß. Musste aber anfangs erstmal dahinter kommen, warum ich ständig über meine Mahlzeiten ausgefragt werde und dass „Reis“ universell für alles Essbare stehen kann.
Übrigens begrüßt man sich hier nicht mit einem Händeschütteln, sondern mit dem "Wai". Man legt dazu beide Hände vor der Brust zusammen und senkt den Kopf. Es wird auch in Kombination mit einer Entschuldigung oder einem Dankeschön verwendet. In der Gesellschaft spielt Rangordnung eine große Rolle, u. a. auch zwischen Älteren und Jüngeren, sodass es bzgl. des Wai verschiedene Regeln und Variationen für unterschiedliche Situationen gibt. Falls ihr mal üben wollt, verlinke ich euch hier eine kleine Anleitung: https://www.youtube.com/watch?v=usPNuTElFiI (Es ist zwar ein englisches Video, aber durch die Bilder und das Vorzeigen kann man es sich auch erschließen. Außerdem könnt ihr nebenbei mal hören, wie die Sprache klingt, die man hier spricht.)
Sicht auf andere und Sicht auf das Leben
Die meisten Thais sind sehr freundlich und ich bin gerne mit ihnen zusammen. Ich habe bei denjenigen, mit denen ich mehr zu tun habe, beobachtet, wie sie die kleinen Freuden des Alltags schätzen und genießen, obwohl fast jeder von ihnen schwierige Lebensumstände hat. Fast jeder, den ich in Bangkok getroffen habe, ist hier, um Geld zu verdienen, und hat die eigene Familie auf dem Land. Man arbeitet hier, um die Angehörigen dort zu unterstützen, und ist viel allein. Viele leben sehr einfach, teilweise ohne Möbel, in einem Zimmer, und sehen sich zusätzlich mit großen Herausforderungen konfrontiert, wie Armut, der Krankheit von Angehörigen, zerstörten oder zerstörerischen Beziehungen oder der Trennung von ihren Kindern. Sie sprechen frei darüber, aber nörgeln in der Regel nicht herum. Stattdessen leben sie gesellig mit den Menschen in ihrem Umfeld, erkunden die Stadt und freuen sich über Dinge wie ein leckeres Essen für 1,50 €, eine neue Frisur oder frisch lackierte Fingernägel. Auch habe ich schon oft beobachtet, dass sie sehr aufmerksam gegenüber anderen Menschen sind und sich umeinander und auch um mich kümmern. Ich finde es berührend, dass Menschen in so schwierigen Umständen nicht nur einen Blick für die Situationen anderer übrig haben, sondern auch aktiv für sie da sein wollen. Hier redet man sich respektvoll oft mit „Pi“ (ältere/r Schwester/Bruder) oder „Nong“ (jüngere/r Schwester/Bruder) an, und die Älteren kümmern sich um die Jüngeren.
„Thai Style“
Einige Menschen sind mir besonders ans Herz gewachsen. Da wären zum Beispiel ein paar Thai Freunde. Sie fragen mich hin und wieder, ob ich mit ihnen Essen gehen oder am Wochenende etwas unternehmen möchte, und zeigen mir Bangkok aus Thai Perspektive. Obwohl es dieselbe Stadt ist, erlebt man sie völlig anders, wenn man mit Thais unterwegs ist, und kommt an Orte, die man alleine nie gefunden hätte. Auch bekommt man Einblicke in ein Leben und eine Welt, die einem als Ausländer sonst nicht zugänglich wäre. Ich schätze das sehr. Wir haben einige Dinge zusammen erlebt, und vertrauen einander.
Ungebetene Gäste
Eine Sache, mit der ich mich partout nicht anfreunden will, aber die mich inzwischen etwas weniger verstört, ist das Ungeziefer. Damit meine ich vor allem Kakerlaken. Es gibt sie in vielen verschiedenen Größen und Varianten, wobei ich mich vor den Größeren besonders ekel - der orientalischen und der deutschen Kakerlake. Sie sind überall, auch wenn man sie nicht sieht. Manchmal wird man daran erinnert, wenn eine schnell unter dem Obst im Supermarkt verschwindet, eine abends auf dem Asphalt einen zertretenen Artgenossen verspeist oder ein paar von ihnen zusammen auf einer öffentlichen Toilette abhängen.
Sie sind auch in Restaurants, Hotels, Wohnungen - einfach überall. Und dabei ist es egal, wie einfach oder luxuriös der Ort ist, an dem man sich aufhält. Sie bewegen sich zwischen den einzelnen Wohneinheiten. Die Vorstellung, dass mir nachts mal eine unerwünscht nahe kommen könnte, hat mir nicht nur einmal eine ungemütliche Nacht beschert.
Ich gebe mir Mühe, meine Wohnung für Kakerlaken so unattraktiv wie möglich zu machen, lasse also kein ungewaschenes Geschirr in der Spüle, lagere alles Obst etc. und sogar meinen Biomüll bis zum Rausbringen im Kühlschrank und wische benutzte Oberflächen zeitnah ab. Auch Pflanzen sind keine gute Idee (waren sie übrigens auch vorher nicht :) ). Steckdosen und manche Öffnungen in den Wänden habe ich angeklebt. Ich habe mich schon als Kammerjägerin versucht, fast alle im Supermarkt verfügbaren Fressfallen ausprobiert und einmal meine ganze Wohnung vergiftet. Trotzdem - ganz sicher fühle ich mich nicht.
Die Thais nehmen das in der Regel gelassener und empfinden etwas anders als ich über die Tierwelt. Eines schönen Juniabends war ich etwas länger auf der Arbeit, und zwei Frauen aus dem Programm waren noch im Erdgeschoss und erledigten ihren Job. Da entdeckte ich einen winzigen, gepunkteten Gecko auf dem Boden. Ich fand ihn süß und zeigte ihn A. Sie kreischte und bat mich inständig, nicht näher ran zu gehen. Verwundert fragte ich, ob er giftig sei oder so. „Nein, aber ich hab Angst! Er sieht aus wie ein Krokodil!“ Dass ich ihn mir aus der Nähe anschauen wollte, machte sie ganz nervös. Sie zog mich immer wieder zurück. Irgendwann reichte sie mir dann einen Besen und ein Kehrblech und fragte mich, ob ich ihn entfernen könne. Ich brachte ihn also woanders hin und wünschte ihm viel Glück - schließlich war dieser Knirps ein potenzieller Kakerlakenfresser.
Dann ging ich zurück. A. wunderte sich über meine heldenhafte Furchtlosigkeit. Da erzählte ich ihr von meinem Kakerlakenekel. Das fand sie überaus witzig. „Echt jetzt? Ich kann die einfach mit der Hand vom Boden aufheben. Man kann die auch essen.“ Während ich mich bei der Vorstellung daran noch schüttelte, kam W. von draußen herein. A. musste die Neuigkeit gleich mit ihr teilen: „W., Jenny hat Angst vor Kakerlaken!“ „Echt? Ich hab hier welche!“, meinte W. Ich lachte etwas gequält und hoffte, dass das nur ein Witz sei. Dann öffnete sie die große, weiße Papiertüte und hielt mir triumphal ihre frisch erworbenen, frittierten, schwarzen Kakerlaken hin. Wie in einer Werbung sah sie mich amüsiert an, sagte: „Aroy!“ („Lecker!“) und knusperte das erste Exemplar genüsslich weg. Mein verstörter Blick sorgte für viel Belustigung.
Essen
Vor ein paar Monaten war die Hauptsaison für unzählige Obstsorten. Litschis, Rambutan, Mangos, Passionsfrucht,... Herrlich war das. Als ganz besonderer Leckerbissen galt da die Durian. Sie ist auch als "Stinkfrucht" bekannt und macht ihrem Namen alle Ehre. Den faulen Geruch, der penetrant an allem haftet, was der Durian zu nahe kommt, finde ich nicht gerade verführerisch. Aber irgendwann muss mal irgendjemand auf die Idee gekommen sein, so ein Ding zu züchten und zu essen und zu einer Delikatesse zu erklären. Na ja...
Die Hochsaison für viele Früchte ist leider vorbei. Meine Favoriten wie Mango und Mangostan sind nicht mehr das, was sie mal waren - wenn man sie denn findet. Aber Wassermelonen, Kokosnüsse und Bananen gibt es das ganze Jahr über.
Essen ist hier ein Riesending. Essen bedeutet Gemeinschaft. Gemeinschaft bedeutet essen. Du willst mit Freunden abhängen? Wir treffen uns im Restaurant! Du hast mit jemandem etwas zu klären? Komm ins Café! Man bestellt oft viele einzelne Gerichte, die sich dann alle teilen, um von allem etwas zu haben. Thais essen übrigens nicht immer mit Stäbchen, sondern meistens mit Löffel und Gabel. Die Gabel hat hier die Funktion wie bei uns das Messer.
Thai Essen ist an sich echt lecker und könnte so gesund sein. Ich frage mich immer wieder, wie ich jemals ohne Klebreis, Kokosnussmilch und gelbes Curry gelebt habe. Es ist nur schade, dass man so gerne MNG (Geschmacksverstärker) und Zucker verwendet. MNG findet man in fast jeder Küche.
Ich habe neben der thailändischen auch von der japanischen und koreanischen Küche probiert. Leider hat letztere ein außerordentlich ausgeprägtes Faible für Schärfe, sodass ich mir weitere Tränen und Bauchschmerzen erspare. Das gilt allerdings nicht eines der angeblich gesündesten Lebensmittel der Welt - Kimchi. Es handelt sich um fermentiertes Gemüse (v. a. Kohl und Rettich asiatischer Art), das man in Korea täglich isst. Es ist einfach ein Genuss. Ich mische es allerdings meistens irgendwo unter, damit ich die Schärfe aushalten kann. (Übrigens ist hat Südkorea hier einen ziemlich guten Ruf. Dort gedrehte Filme und Serien erfreuen sich großer Beliebtheit und auch ich war von dem Flair des einen Kinofilms, den ich angeschaut habe, positiv überrascht. Zudem sind auch koreanisches Make Up und sonstige Schönheitsbehandlungen hoch im Kurs.)
Zurück zum Essen. Die japanische Küche ist bezüglich der Schärfe eher unbedenklich. Auch für jemanden, der kein Sushi mag, ist das Angebot sehr abwechslungsreich. Hin und wieder erkennt man auch Einflüsse europäischer Länder. Die Bestellung wird oft in vielen verschiedenen Gefäßen mit Beilagen als Set serviert, oft mit Tofusuppe, Krautsalat und Ei. Das ist immer wieder eine Erfahrung wert.
Jahreszeiten
Nachdem der „Winter“ und der „Sommer“ vorüber sind, ist nun die Regenzeit angebrochen. Obwohl sie offiziell schon vor zwei Monaten begann, ist es noch gut auszuhalten. Meistens ist es tagsüber trocken, und abends gibt es dann und wann heftige Regenschauer. Viele tragen Schuhe aus Gummi, weil es nicht unüblich ist, dass die Straßen knöchel- bis knietief unter Wasser stehen und man hindurchwaten muss. Das ist während meiner Zeit hier bisher aber nur sehr selten passiert.
Songkran
Eine andere nasse Angelegenheit erlebten wir vor dreieinhalb Monaten zum thailändischen Neujahrsfest „Songkran“. Es findet Mitte April zur heißesten Zeit des Jahres statt (in den "Sommermonaten" hatten wir tagsüber oft um die 38° C) und geht über mehrere Tage. Viele gehen für diese Zeit zurück zu ihren Familien aufs Land und segnen die Älteren, während sie gemäß dem Brauch Wasser über ihre Hände gießen.
Der für mich spaßigste Teil dieses Festes waren definitiv die Wasserspiele. An diesen drei Tagen war man draußen nicht mehr sicher - Leute standen mit Wasserpistolen und Eimern an den Hauptstraßen und auf öffentlichen Plätzen und machten jeden nass, der des Weges kam. Jeder packte seine Wertgegenstände in Plastik ein. Mit verschiedenen Freunden besuchten wir die „Hotspots“ dieser Spiele und leisteten unseren Beitrag. Am heftigsten war es auf der berüchtigten Kao San Road. Diese Straße war abends so voll, dass die Menschen einen einzigen Strom bildeten, in dessen Rhythmus man sich in kleinen Schritten fortbewegte. Es war eine sehr spaßige, gesellige Zeit, und ich kam viel rum.
Alltag im Rotlicht
Die Arbeit mit den Frauen aus der Prostitution hat mir ein Stück weit Einblicke in eine Welt geöffnet, die mir bislang noch völlig verschlossen gewesen war. Ich meine damit nicht nur das Rotlicht, sondern auch ihre eigene Herkunft, Prägung, ihre Lebensweise und ihre Ansichten.
Zum Beispiel ist mir aufgefallen, dass die Thai Frauen aus dem Rotlicht gewissermaßen eine Gemeinschaft bilden, ein soziales Umfeld, in dem sie ein bisschen verstanden werden, sich zum Teil gegenseitig unterstützen und in der es auch so etwas wie Klassen gibt - von den „edlen“ Ladies bis hin zu den Obdachlosen. Zum Teil weichen ihre Gesprächsthemen und ihr Blick auf die Welt merklich von der Norm ab und sind auch irgendwie eine eigene „Bubble“.
Manchmal erzählen sie von Missbrauch und Belästigung. Auch für einige, die in in diesem Bezirk auf andere Weise ihren Lebensunterhalt bestreiten (z. B. durch klassische Thai Massagen oder als Kellnerinnen), gehört sexuelle Belästigung zum Alltag.
Die Prostituierten behandeln ihre Arbeit meistens wie einen normalen Job. Dass es kein normaler Job ist, stelle ich immer wieder fest, wenn ich diejenigen beobachte, die schon seit vielen Jahren dabei sind. Während jüngere Frauen oft noch motivierter zu sein scheinen und man generell oft hört, dass alles in Ordnung sei und man jetzt viel mehr Geld verdiene als früher, habe ich bei fast allen älteren Frauen beobachtet, dass sie unter Zwängen leiden oder völlig entfremdet von der Realität des normalen Lebens sind. Ich zähle mal ein paar Beispiele auf: endloses Händewaschen, Kleidung und Schminken in ausschließlich einer Farbe (weil eine innere Stimme einem einredet, ein bestimmtes Tier dieser Farbe zu sein), Tragen ausschließlich eines Kleidungsstücks, das Glück bringen soll - ungeachtet der Tatsache, dass es bereits völlig zerfetzt ist -, notorisches Stehlen, Abtreibungen am laufenden Band, Apathie, Schizophrenie, Drogensucht und Alkoholabhängigkeit.
Diese Liste ist nicht abschließend. Ich habe schon in unzählige ausdruckslose Augen geschaut. Manchen sieht man an, dass sie sehr erschöpft sind. All das sieht ein normaler Außenstehender und vor allem ein Kunde in der Bar nicht unbedingt. Auch ich muss mich selbst im Alltag durch mein Hintergrundwissen immer wieder daran erinnern, dass die Frau dort drüben höchstwahrscheinlich gerade nicht den Spaß ihres Lebens hat. Denn es sieht danach aus. Das gehört eben mit zu einem guten Kundenservice.
Mir fällt auch immer wieder auf, wie sehr viele Frauen darunter leiden, dass sie älter werden. Sie schauen sehr stark auf ihr Äußeres und fühlen sich ganz offensichtlich wertlos. Sie scheinen nicht mehr begehrt zu werden. Viele betreiben großen Aufwand mit Make Up und damit, ihre Haare und Nägel zu machen und passende Kleidung zu finden - zugeschnitten auf ihre Kundschaft. Es gibt Einzelne, die sich Zöpfchen flechten lassen und sich die Fingernägel bunt oder pink mit Glitzer lackieren, und sich dann freuen, dass sie aussehen wie „Dek dek“ (wie ein Kind). Verrückte Welt. Generell lässt sich immer wieder erkennen, auf welche "Art" von Freiern die Frauen sich ausrichten. Frauen mit arabischen Kunden zum Beispiel tragen zum Teil lange Kleider und lassen ihre Hände mit Hennatattoos verzieren. Bei westlichen Kunden wird mehr auf eine schlanke Figur, einen westlichen Kleidungsstil und Grundlagenenglisch geachtet. Für Kunden aus Japan wird auch gerne mal die eine oder andere Nase korrigiert.
Aktuell gibt es meines Wissens nach nur wenige Frauen, die die Prostitution hinter sich lassen und ein neues Leben anfangen. Das war früher offenbar anders. Es gibt einige Gründe, die ich persönlich dafür sehe, und in einem angemessenen Rahmen debattiere ich manchmal darüber. So ein Neuanfang ist jedenfalls für alle ein sehr großer Schritt, und verlangt einem in allen Hinsichten extrem viel ab.
Wunden und Wunder
In den letzten neun Monaten habe ich viel Schmerz gesehen und war manchmal frustriert. Aber wenn ich über meine Zeit hier nachdenke, ist doch die beständige, spürbare Gegenwart Gottes das, was jede Phase hier geprägt und wertvoll gemacht hat. Mir kommen die Tränen, wenn ich darüber nachdenke, wie er von Anfang an bis jetzt mit mir war und ist und sich mir gezeigt hat. Er gibt mir Antworten, wenn ich Fragen habe oder irritiert bin. Er beschützt mich ganz drastisch und spürbar in gefährlichen Situationen. Er erfüllt mich immer wieder mit unbeschreiblicher Freude und ist mir ein vertrauter Freund in einem fremden Land. Er ehrt mich vor Menschen, die auf mich herabschauen, und versorgt mich mit markanten Begegnungen und Erlebnissen, die meine Zeit hier spannend machen.
Persönlich stelle ich fest, dass die Arbeit und Beziehung mit den Frauen, die schon ausgestiegen und Teil des Programms sind, mir viel leichter fällt als mit denen in den Bars und auf den Straßen. Ich empfinde es als großes Privileg, mit ihnen zusammen zu sein, von ihnen zu lernen und ihnen etwas beibringen zu können.
Ich wünschte, euch tiefer in einzelne Begebenheiten mitnehmen zu können, aber ich möchte keine sensiblen Dinge öffentlich zugänglich ins Internet stellen, weil ich das selbst mit Anonymisierung unfair fände. Die tiefsten Begegnungen und Erlebnisse werde ich ohnehin wohl nie erzählen. Die bleiben in meinem Herzen. Aber wer möchte, kann gerne ein paar Geschichten hören - und Wunder.
Bis ganz bald!
Eure Jenny
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