Die Uhr tickt...
Nur noch zweieinhalb Wochen zu arbeiten, nur noch 22 Tage mit meiner Familie und meinen Freunden - dann betreten meine Füße den Boden, der für die nächste Zeit mein Zuhause sein wird. Es wirkt irgendwie so weit weg...seltsam, dass es schon so nah ist. Mache ich das wirklich?
Manchmal wundere ich mich selbst, mit welcher Objektivität ich in den Kalender schaue und ein bisschen plane, so als wäre das alles für irgendjemanden, aber nicht für mich. Manchmal scheint mir, dass ich mein Umfeld verwirre, weil mein Kopf gefühlt ständig in den Wolken hängt...sorry dafür, Leute.
Was erwartet mich?
Das weiß ich, ehrlich gesagt, gar nicht so genau. Dieser neue Lebensabschnitt ist noch so unerforscht, dass ich ihn kaum durchblicken kann, auch wenn der grobe Rahmen schon absehbar ist. Also falls ihr mir viele Fragen stellt, werdet ihr wohl öfter ein Achselzucken zurückbekommen.
Wenn ich in Bangkok ankomme und den Jetlag überwunden habe, suche ich mir eine Bleibe. Vielleicht werde ich mich in einem Condo in einem bezahlbaren Wohnumfeld einmieten. Oder ich treffe Menschen, die mir vertrauenswürdig erscheinen und ein Zimmer übrig haben. Mal schauen. Jedenfalls möchte ich ein Zuhause haben, in das ich am Ende des Tages gerne zurück komme.
Ziemlich bald nach meiner Ankunft werde ich dann schon anfangen, bei der Organisation zu arbeiten, die Frauen in und aus der Prostitution hilft. Was genau ich dort machen werde, weiß ich noch nicht. Ich habe im Vorfeld mit den Mitarbeitern gesprochen, und es gibt auf jeden Fall viel zu tun. Die Aufgabe an sich ist für mich persönlich nicht das Wichtigste. Ich möchte einfach so weitreichend wie möglich dazu beitragen, dass diese Frauen Hoffnung bekommen und in ein neues Leben starten können. Ich wünsche mir diesbezüglich einfach, dass ich meinen Platz finde.
Kennenlernen im Mai/Juni 2022
Im Frühjahr dieses Jahres war ich schon einmal mit meiner Mama für eine Woche bei der Organisation zu Besuch gewesen. Wir hatten uns bewusst ein Hotel im Rotlichtviertel ausgesucht, um nah am entsprechenden Standort zu sein. Durch die täglichen Fußmärsche in der unter Touristen für Sextourismus bekannten Straße konnte man sich relativ schnell ein Bild von den Verhältnissen machen - zumindest von den nach außen sichtbaren.
Ein Erlebnis hat sich dabei ziemlich stark bei mir eingebrannt. Wenige Meter vor mir ging eine thailändische, junge Frau, höchstens in meinem Alter, den Bürgersteig entlang, Hand in Hand mit einem europäisch aussehenden Mann, der seine langen Haare nach hinten zurück geflochten hatte und schätzungsweise 20 bis 30 Jahre älter war als sie. Die Anspannung, die man spürte, passte nicht zum Bild. Szenen wie diese gab es öfter zu sehen, aber an dem Tag traf es mich ziemlich stark. "Das könntest du sein", hörte ich mich denken. "Nur an einem anderen Ort geboren, in einem thailändischen Dorf, wenig Perspektive und ein paar unglückliche Umstände, und du wärst jetzt hier..."
Ich hörte in mir die Szenen aus dem Film, durch den ich auf die Organisation aufmerksam geworden war. Die Gründerin zitiert darin ein Gespräch mit einem Freier. Er habe gemeint: "Für diese Mädchen ist es besser, hier zu arbeiten, als auf den Reisfeldern." Darauf habe sie geantwortet: "Wirklich? Willst du wissen, was sie mir sagen? Ich unterhielt mich mit einer jungen Frau. Sie sagte: ´Hier wurden innerhalb kurzer Zeit zwei Frauen von ihren Freiern ermordet. Ich habe Angst, ich möchte sterben. Denn selbst, wenn ich in die Hölle komme, ist es besser, als das hier." Sie fügte in ihrem Interview hinzu: "Er war schockiert. Denn das ist natürlich nicht das, was er von den Frauen hört, die er dafür bezahlt, dass sie ihm sagen, dass er etwas ganz Besonderes ist."
Mein Empfinden
Mir wird ganz anders, wenn ich darüber nachdenke. Ich weiß, dass es verschiedene Meinungen in Bezug auf Prostitution gibt und dass manche Frauen von sich sagen, sie täten es gerne. Okay. Wer seine Arbeit im Bordell behalten will, der behalte sie. Aber was ist mit all den anderen? Mit denen, die durch Drohungen und Gewalt dort festgehalten werden, oder auch denen, die augenscheinlich jederzeit gehen könnten, aber mit anderen Fesseln dort gebunden sind, die wir nicht sehen? Was ist mit denen, die durch Missbrauch und Verachtung so ein geringes Selbstwertgefühl haben, dass der Schmerz ihr Zuhause geworden ist? Was ist mit denen, die durch den Druck der Familie oder Manipulation durch Partner dort verbleiben, oder aus finanzieller Not ums nackte Überleben kämpfen?
Ich bitte immer wieder meinen Liebsten, dass er mein Herz zerbricht für das, was sein Herz zerbricht. Ich möchte den Schmerz spüren, den er spürt, und Menschen so sehen, wie er, der Schöpfer, sie sieht. Ich möchte mein Herz nicht davor beschützen, das schlimmste Elend zu erleben, verletzt zu werden und mit den Weinenden zu weinen, wenn mich das dazu bewegen kann, einen echten Unterschied zu machen und Licht an die dunkelsten Orte zu bringen. Ich will lernen, radikal zu lieben.
Bedenken
Manche Menschen halten mich für mutig, andere für leichtsinnig, andere für verrückt. Ich fühle weder das eine noch das andere. Vielmehr finde ich diese Welt völlig verrückt, wohingegen ich meinen Anker ausgeworfen habe. Ich glaube, es gibt keine Sicherheit, nur unsere Seifenblase, von der schon so lange spürbar ist, dass sie bald platzen muss. Meinen Frieden finde ich nur in den Armen von Papa-Gott.
Manchmal kommen Zweifel. Manchmal hab ich Angst. Ich habe noch nie im Ausland gelebt, kenne die Schrift und Sprache nicht, habe dort noch keine Freunde, keine Familie, und habe noch nie direkt mit Leuten aus dem Milieu gearbeitet. Ich habe noch keine Wohnung, kein festes Einkommen mehr, kann die Menschen und Kultur noch nicht einschätzen, bin dort die einzige Deutsche. Bin ich vielleicht wirklich naiv? Was ist, wenn ich keinen Anschluss und Zugang zu den Menschen finde? Kann ich mit brenzligen Situationen umgehen? Ist mein Gottvertrauen vielleicht doch nur heiße Luft, die verpufft, wenn ich dem Schrecken in die Augen sehe?
Ich lerne, zu unterscheiden, welche dieser Gedanken wirklich aus meinem Herzen kommen und welche von außen auf mich gefeuert werden. Letztere sind leicht abzuweisen. Aber was von mir kommt, damit möchte ich mich auseinandersetzen und dann in der Wahrheit baden, die ich verstanden habe, und die so heilsam ist:
Er hat alles für mich zur Vollendung gebracht
Mein Leben ist verborgen mit Christus in Gott. Weil ich in ihn eingehüllt bin, gehört alles Frühere, das in mir war und nicht der Schönheit göttlichen Lebens entsprach, der Vergangenheit an. Er hat mein Herz mit sich versöhnt und neu gemacht. Er lebt in mir und durch mich, und ich lebe für ihn und im Vertrauen auf den, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat. Jetzt wird diese Liebe mich auch befähigen, das Leben zu leben, das er für mich vorbereitet hat - unabhängig von den Umständen.
Ehrlich gesagt, auch wenn es sich gruselig anfühlt, freue ich mich auf all die Momente, in denen ich an das Ende meiner menschlichen Möglichkeiten kommen werde - wo man ein Wunder braucht oder das ganze Ding den Bach runtergeht. Ich brauche keine Religion, bei der ich mir sonntags anderthalb Stunden den Hintern platt sitze und man hinterher nicht so wirklich weiß, ob Gott an diesem Gottesdienst überhaupt teilgenommen hat, weil das Programm auch ohne ihn gut läuft. Ich will mir der Abhängigkeit bewusst werden, in der ich von ihm bin, und in seinem wundervollen Werk mitschwimmen. Ich will sehen, dass kein Ort zu dunkel, keine Situation zu verzwickt, kein Mensch zu kaputt, keine Gesellschaft zu böse ist für seine Liebe, die sich hingibt bis aufs Blut.
Vielleicht wird es zwischendurch richtig hart. Vielleicht werde ich hin und wieder auf die Nase fallen. Bitte seid dann gnädig mit mir, ich lerne noch. Aber am Ende werde ich Geschichten erzählen, die ich mir noch gar nicht vorstellen kann, und werde bezeugen, dass es sich lohnt, ihm zu vertrauen, aus dem Boot auszusteigen und auf dem Wasser zu laufen.
(Das Lied hier mag ich echt gerne: https://www.youtube.com/watch?v=dy9nwe9_xzw.)
Danke Leute :)
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